Brückensturz

I. Die Vorgeschichte

Nein, der Piano Drop ist kein neues Lutschbonbon für Klavierspieler. Was aber ist er dann, der Drop? Holen wir eine Kleinigkeit zu einem Blick in die Geschichte aus. Kunstkennern ist er natürlich ein Begriff -- der Fluxushansen. Der Gute warf einst – es war im letzten Weltkrieg – ein Klavier aus einem Fenster (es war nicht das Erdgeschoß) und fand Gefallen am Klang des sich auf dem Boden in seine Einzelteile auflösenden Instrumentes. Einmal auf den Geschmack gekommen, beförderte er in der Folgezeit noch so manches Altklavier aus luftiger Höhe in klingende Tiefen. Da alles Künstliche erstens einen Namen haben muß und zweitens jemanden, dem man es widmet, gedieh im Falle des Hansenschen Pianojumpings der Lennon Witwe Yoko Ono die Ehre an, dass künftige Entsorgungsaktionen unter dem Namen Yoko Ono Piano Drop firmierten. Es begab sich – so was soll vorkommen – das aus dem Fluxushansen im Privatleben ein Opahansen wurde. Einer der Enkelsöhne brachte es auf dem Gebiet der Musik zu einigem Anhören (warum sollte man von Ansehen sprechen), was sich leicht durch topgerankte Hits und einen Grammy belegen lässt.

So weit – so gut. Nun begab es sich aber, daß der Enkelhansen – bekannt unter dem Namen Beck – eine musikalische Reise in Deutsche Lande unternahm, um seinen Fans marketingtechnisch nahe zu sein. Und es begab sich weiter, daß ein kluger Kopf auf die Idee kam, den Hansenbeck an den Niederrhein (das ist irgendwo zwischen Köln und Holland) zu holen. In einem altgedienten Märchenschloss, wo einst ein alter Fritz einen Mann namens Voltaire zu Gast hatte und Filmteams Kulissen für den Hund von Baskerville fanden, war nämlich mittlerweile ein Museum entstanden, das in Petersburger Hängung Werke eines Herrn Beuys beherbergte. Der Beuysjupp und der Klavierhansen – schon wieder die Geschichte – pflegten zu Lebzeiten künstlerische Beziehungen. Und da auch der Enkelhansen sich künstlerisch betätigte, lag es doch in der Nähe, ihn mit einer Ausstellung und der medial aufbereiteten Exhumierung des Piano Drops in eben jenes Schloss einzuladen. Das kostet. Aber wo ein Beck ist, findet sich auch (Sail away – dream your dream) eine Brauerei, die gewillt ist, dem Niederrhein (wo war der noch gleich?) ein kulturelles Angesicht zu spendieren. Aber Hallo. Nur waren es nicht die Becks-Bier-Boys, die mit ein paar Scheinen auf den Plan rückten – es war eine Altbierdynastie. Das passte zwar nicht so schön zum Künstlernamen, aber immerhin zur spektakelhaften Entsorgung eines Klaviers, das im Folgenden als "Alt"Klavier bezeichnet werden wird.

Schon im Vorfeld der Veranstaltung deutete sich ein reges Medienecho an. Nicht nur Schreiberlinge bestanden auf Einlass, nein, das heutzutage einzig die wahren Weihen der Popularität garantierende Fernsehen meldete sich zahlteamig und um Strom bittend an.

II. Es ist so weit

Jetzt also steht es da – das Altklavier und wartet (auf einem Schlossvordach stehend) auf seine kunstgerechte Entsorgung. Das Publikum ist zahlreich erschienen und erwartet den Drop wie eine ultimative Heilsbotschaft. Hier und heute also wird es geschehen, daß aus einem von Flohwalzern und Czerny-Etuden geplagten Altklavier ein Kunstwerk wird. Eine religiöse Aura breitet sich übers Gelände. Schließlich warten wir auf die Wandlung. Wo in kirchlichen Hallen aus Brot und Wein Fleisch und Blut gemacht wird, sollen hier also Altholz plus Gussrahmen und Stahlsaiten zur Reliquie mutieren. Die Frage ist: Wann? Ein auf dem Vordach auf seine Exekution wartender Klangkörper kann noch nicht das Kunstwerk sein. Ist also der freie Fall der Ort der Wandlung? Fragen wie diese verbieten sich. Man outet sich als Ketzer und Banause. Nach so etwas fragt man nicht. Man weiß es! Der Moyländer Brückensturz (Moyland heißt übrigens das beuys'sche Kunstschloss) wird zwar nicht den 30jährigen Krieg der Kulturen entfachen, aber ein Tagesthema ist ja schließlich auch schon was. Vor dem Brückensturz allerdings gibt es erst einmal – natürlich live im Internet – eine Pressekonferenz. Seine Matjestät (immerhin befinden wir uns an der Grenze zum Heeringsstaat) lässt auf sich warten. Da bleibt – nach dreimaliger Vertröstung der versammelten Fan- und Pressegemeinde – die nötige Zeit für eine Einführung durch seine Durchlaucht, den Herrn Museumsdirektor. Was ist Fluxus? Das sollte man vor der geistigen Einnahme der Klavierpille aber nun doch wissen. Was hat der Beuys-Bube mit dem Tasten-Hansen zu tun. Das kann in 20 Minuten leicht erklärt werden. Und dann öffnet sich endlich eine Schiebetür, und der Meister betritt den Saal. Zeit, die träumenden Kameras aus dem Tiefschlaf zu wecken und an die Arbeit zu gehen. Vorher haben Mitarbeiter des Sponsors stundenlang Flaschen auf dem Tisch drapiert – jedes Etikett peinlich genau linsenwärts ausgerichtet: Beck und das Bier. Beck und die anderen Sponsoren. Beck und das Internet. Beck und seine Meinung. Beck wird, so verkündet der Hofmarschall, begleitet von zwei Kameras, nach der Entsorgung des noch unheilig auf dem Vordach ausharrenden Klaviers zusammen mit seiner eigens angereisten Familie, einen Gang durch das Museum machen. Der wird natürlich auch im Internet zu sehen sein – und auf einer Großleinwand in den Außenanlagen. Nicht nur, was Beck berührt, wird zur Kunst – auch das, was er sieht. Halt – Stopp. Was er sieht, ist ja bereits Kunst. Das zumindest nehmen wir an.

An den Absperrgittern harrt derweil das ungeduldig den Meister erwartende Fußvolk. Die Spannung steigt. Aber vorher dürfen die geladenen Journalisten Fragen stellen. Intelligent sollen sie sein – darum bittet innigst der Hofmarschall. Ach ja – ein Wort an die Fotografen: Das Fotografieren wird ihnen zwar gütigst gestattet, doch muß, bitte, jeder einzelne von ihnen eine eigens zu diesem Zweck angefertigte Erklärung schriftlich rechtsgültig machen, auf der er, sie oder es sich verpflichtet, keines der angefertigten Bilder an andere Personen als seine oder ihre Chefredakteure abzutreten. Selbst bei kostenlosem Verschenken der Bildnisse des Meisters an etwaige Freunde oder Fans vor den Gittern muß der Fotograf sich der Tatsache bewusst werden, daß er, sie oder es sich strafbar macht. Geschenkt. Die Fragen der wissbegierigen Presse werden ausnahmlos als entweder zu unintelligent oder aber als zu intim abgeschmettert. So geht es nicht. Außerdem ist in Anbetracht der mittlerweile eingetretenen zeitlichen Verzögerung umgehend mit der Klavierweihe zu beginnen. Der Meister erhebt sich.

Die Fotografen und Kameraleute stürzen augenblicklich hinaus aus dem Museum und in Richtung Brücke. Der Meister wird mit dem Klaviersturz drei Minuten warten. Danach gilt: Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben. Schon schwebt Beck davon und eilt auf das Vordach, wo er von den Wartenden wie ein König oder wahlweise wie der Messias selbst empfangen wird. Jetzt also nähert sich der heilige Augenblick. Wir wollen an dieser Stelle nicht vergessen, die Firma zu erwähnen, die das Klavier wohlgestimmt zur Verfügung gestellt hat. Leider hat der Meister seinen Altbiersponsoren verwehrt, das gleich herabstürzende Altklavier mit einigen Flaschen zu dekorieren. Gänzlich ungeschmückt wird es seinen letzten Gang gehen, der ja eigentlich ein Flug ist. Als der Meister den ersten Schritt in Richtung des greisen Klavieres tut, wird aus der Menge ein Raunen laut. Wir dürfen annehmen, daß es völlig egal wäre, ob der Magier nun ein Tasteninstrument herunterstürzen, oder über das Geländer seine Notdurft auf die Brücke verrichten würde. Hauptsache, er ist da. Unten auf der Brücke geht ein Mann mit Turban in Stellung. Man sagt, er sei Beuys-Schüler und sei von der Beuys Witwe einmal wegen Ideenklaus verklagt worden. Aber trug Beuys denn nicht immer einen Hut? Beck jedenfalls tritt baren Hauptes vor seine Gemeinde, deren überwiegende Zahl in schlichtem Schwarz angetreten ist, zu dem sie eine kreideweiße Haut als Kontrastmittel trägt.

Jetzt schreitet der Meister in Richtung des Klavieres und legt Hand an dessen Rücken. Der Meister beginnt zu drücken – stemmt sich gegen das keine Gegenwehr leistende Klavier ... und es fällt, fällt werbeunwirksam schnell, braucht vielleicht eine Sekunde auf dem Weg der Wandlung und schlägt dann endlich und geheiligt auf einer eigens ausgelegten Stahlplatte auf. Da ist er – der vom Großvater als einmalig eingestufte Klang. Ein "Tock" – das war's. Wenn sich doch wenigstens die Saiten – von jahrelangem Gedämpftsein plötzlich befreit – zu einem orgiastischen Cluster hinreißen ließen. Nichts davon. Das Klavier schweigt. Begrabt mein Herz an der Biegung der Brücke. Sein oder Nichtsein. Und doch – ist da nicht ein Geräusch? Lauschen wir! Nein, es handelt sich nur um das Klicken von Hunderten von Objektivverschlüssen. Der Meister selbst ist längst vom Vordach verschwunden und macht sich auf den telegenen Weg durch kunstverseuchte Museumshallen. Ein Mann mit Kreide folgt seinen Schritten: Hier ging der Meister. Jetzt endlich können die Bilder abgenommen werden. Jetzt endlich ist die Flasche wichtiger geworden als aller Inhalt. Jetzt endlich wird ein beckgeweihtes Schloss zurückbleiben. Draußen vor der Tür plündern die Journalisten das Heiligtum. Hier ein Hämmerchen – da ein Dämpfer. Der Mann mit dem Turban lässt seine Finger über die Saiten gleiten und harfengleiche Töne schweben in den Abendhimmel. Die Seele eines sterbenden Klavieres. Die Jünger jenseits der Absperrung recken ihre Finger in Richtung der Reliquie. Die Journalisten – endlich zu der Wichtigkeit emporgestiegen, von der sie immer träumten – werden zu Götterboten und eilen mit Reliquienresten zwischen Klavierkadaver und Fanblock hin und her. So leicht sind die Menschen glücklich zu machen.

Demnächst wird ein findiger Manager auf die einzig wahre Idee kommen: Berge von Sondermüll werden mittels Weiheaktionen zu Kunstwerken gemacht. Statt für die Entsorgung teuer bezahlen zu müssen, werden fortan Millionen und Abermillionen mit dem Verkauf geweihten Sperrmülls zu verdienen sein. Im Internet werden parallel Auktionen veranstaltet werden: Michael Jackson berührte Bauschutt in Dortmund. Wenn das nichts ist. Es ist doch so einfach, Geld und Glück zu verbinden.