Späte Reue

Der 30. Juni des Jahres 1996 wird in die Geschichte der Konzertplanung des unteren Niederrheins eingehen. So viel steht fest. Er wird für alle Zeiten das abschreckende Beispiel des Unverstands und der Unsensibilität - ja, der Geschäftsuntüchtigkeit sein und bleiben. Und er wird mit meinem Namen verbunden sein. Noch in zwanzig Jahren wird man über diesen Tag sprechen und meinen Namen dabei in einem abfälligen Tonfall aussprechen. Nichts wird von mir bleiben außer - wenn ich jetzt und hier meine letzte Chance ungenutzt verstreichen lasse - der schriftlichen Beglaubigung, dass ich meinen Fehler eingestanden habe. Das Wort Fehler scheint - gemessen an der Schwere und Tragweite meines Vergehens - eine unzulässige Untertreibung zu sein. Ich, der ich ansonsten für grenzenlose Übertreibung bekannt bin, mache mich spätestens jetzt im Angesicht des von mir als Fehler beschriebenen Verbrechens endgültig verdächtig. Man wird an meiner Reumütigkeit berechtigte Zweifel entdecken und mich trotz meines Geständnisses an den Pranger stellen und ächten: für den Rest meiner Tage.

Es ist eigentlich nicht einmal der 30. Juni, der vielleicht für künftige künstlerische Leiter zum Gedenktag werden wird - es wird wohl der 26. Juni werden. Am Mittwoch, den 26. Juni, kurz vor 23 Uhr in der Nacht besiegelte Andreas Möller mein Schicksal. Unsere Namen werden zu einem Gespann werden: er, der Held - ich, der unsensible Intendant ohne jegliche Umsicht; der Seelenschänder und Musikdespot. Am 26. Juni 1996 schoss Andreas Möller die Deutsche Fußballnationalmannschaft nach einem dramatischen Spiel, das man vielleicht besser Kampf nennen sollte, ins Finale der Fußballeuropameisterschaft und hatte dabei freilich nicht bedacht (ich muss es einmal so drehen), dass das letzte Konzert der Reihe 'reeserviert' um 20 Uhr am 30. Juni stattfinden sollte. Es mag Leute geben, denen das nichts sagt. So also nur zur lapidaren Erklärung: Möllers Schuss katapultierte das deutsche Team ins Finale, und eben dieses Finale war angesetzt für eben diesen 30. Juni 1996 um 20 Uhr.

Ich habe dieses Tor gesehen und muss zugeben, dass ich nicht einmal im Traum mit solchen Reaktionen gerechnet hätte: seit Tagen steht mein Telefon nicht mehr still. Wie kann man ein Konzert parallel zum Austragungstermin des Endspiels der Fußballeuropameisterschaft ansetzen? WIE KANN MAN NUR? Nun gut, es hätte sein können, dass es die Deutschen nicht bis ins Endspiel schaffen. Das aber würde nur jemandem anzunehmen wagen, der - wie ich - gänzlich desolaten Fußballverstand in die Wiege gelegt bekommen hat. Nein - streng genommen muss immer davon ausgegangen werden, dass wir Deutschen es in jedes Finale schaffen. Wir müssen dazu nicht einmal eine der besten Mannschaften besitzen. Es gibt Naturgesetze, und eben dieses ist eines von ihnen. Und wenn Deutschland im Finale steht, dann hat es keine Konzerte zu geben. Und auch sonst nichts. Am 30. Juni geht nichts mehr auf schwarzrotgoldenem Boden. Und bitte - jemand wie ich kann natürlich ansetzen, was er will für einen solchen Termin, aber es muss dann eben etwas sein, das man alleine tun kann. Nichts, wofür man ein Publikum bräuchte. An einem solchen Tag wird kein Publikum geliefert. Einmal im Jahr will auch das Publikum seinen eigentlichen Interessen nachgehen. Und ein Tag wie der 30. Juni ist ein ebensolcher. Da darf man sich nichts vormachen. Und die Musiker erst? Die mögen Verträge haben oder guten Willen ... aber so geht es doch nun wirklich nicht.

Ewig wird man mir vorhalten, dass bei Vertragsabschluss (und das nicht mal im Kleingedruckten) der Final-Termin nicht erwähnt wurde. Es wird schon Leute geben, die die rechtliche Situation prüfen lassen. Es muss eine Tat wie die meine doch strafrechtlich zu ahnden sein. Gefängnis nicht unter fünf Jahren. Ohne Bewährung. Böswilliges Verschweigen eines Termins. Natürlich - sie alle (die Musiker) sind davon ausgegangen, dass es niemand wagen wird, ein Konzert auf einen solchen Termin zu legen. Dergleichen gehört einfach zum guten Ton. Niemand kann doch davon ausgehen, dass sich einer wie ich über die Naturgesetze stellt.

Möller konnte nichts dafür. Der hat getan, was er tun musste: für Fans und Vaterland. Und überhaupt - was war denn eher geplant? Die EM oder das Konzert? Na bitte, da haben wir's doch. Nein, nicht genug, dass einer nachsieht, ob zur selben Zeit andere Konzerte stattfinden. Sowas würden wir verschmerzen - sowas immer. Nicht aber einen Fehler wie diesen.

Die Telekom verdient nicht schlecht an mir. Jeder ruft an und will wissen, ob ich dem wisse, dass, ... Und natürlich ist jeder nur besorgt, dass keiner kommen wird. Naaaaain - er oder sie selber haben doch kein wirkliches Interesse am Gekicke - wo dächte ich denn hin. Gut - der Cellist vielleicht, der sei besessen und erwäge schon ärztliche Schritte in Form schnell ausbrechender Krankheiten, die das Spielen auf dem Instrument zwar erschwerten oder unmöglich machten, das Sitzen (oder gegebenenfalls das Liegen) vor dem Fernseher jedoch quasi als Teil der nötigen Therapie voraussetzten. Was den Cellisten angehe, solle ich doch erwägen, das Programm umzustellen. Es seien ja zwei Teile von je dreißig Minuten. Das Konzert beginne um 20 Uhr, das Spiel dagegen erst um zwanzigdreißig. Der Cellist also könne sich nach getaner Arbeit gleich ins Auto setzen und noch jede Menge mitbekommen vom Spiel. Andererseits - auch der Chor meutert: Mendelssohn, das sei schöne Musik und auch wichtig, aber eben nicht so wichtig, dass der Mendelssohn an den Schluss gerückt werden müsse. Da komme man ja dann auch zu spät zu Heim und Kind und Frau. Das sei schon gut so - der Chor bestehe auf Einhaltung der ursprünglich geplanten Programmfolge. Der Vorstand habe getagt und mir eben diese Mitteilung zu machen. Vielleicht, so eine andere Stimme, könne man das Konzert ja auch kurzerhand vorverlegen. Fange man um 17 Uhr an, dann umgehe man das Problem, oder? Da sei man locker zum Spiel zu Hause. Die Presse müsse da halt mitziehen und großformatig die Terminänderung bekanntgeben. Klar - das bekomme nicht jeder mit - aber Pech sei halt überall mal dabei.

Keiner erwägt einen Anruf beim DFB und bittet um Verlegung des Spiels. Natürlich - wir sind nicht in der Mehrheit, und zu verdienen ist schon gar nicht an uns. Und überhaupt: eine derart eklatante Planungspanne - da dürfe man sich nicht wundern. Da müsse man seinen Fehler eingestehen und notfalls die Konsequenzen ziehen - was immer das auch sei. Man müsse sie ziehen und dadurch Größe beweisen.

Und: Nein, solch ein Spiel könne man nicht einfach aufnehmen und sich dann später ansehen. Das sei ja wie ... dafür finde man ja nicht einmal einen Vergleich. So was sehe man entweder zeitgleich leif oder eben gar nicht. Und dass man das gar nicht sehe, das sei eine nicht einmal in Erwägung zu ziehende Möglichkeit. Das Spiel werde in der Stadt im Kino auf einer Großleinwand übertragen mit vorherigem Eintrinken. Das sei ein Ereignis, das als Aufzeichnung seinen ganzen Wert bereits vor dem Anpfiff verloren habe. Und wohlmöglich werde man auf dem Weg nach Hause irgendwie das Ergebnis erfahren. Dann sei der Tag aber gelaufen. Aber so was von gelaufen. Da könne man die MAZ (Magnetaufzeichnung) doch gleich verbrennen. Und das solle man am Montag dann mal irgendjemandem klarzumachen versuchen: dass man das Spiel nicht gesehen habe, weil man im Konzert gewesen sei, wohlmöglich sogar noch mitgespielt habe. Spätestens dann sei man für den Rest des Lebens in Unglaubwürdigkeit gesunken.

Alles, alles, alles andere sei doch kein Hinderungsgrund - wirklich nicht. Da könne der dritte Weltkrieg ausbrechen - das störe nicht weiter. Und außerdem würden dann doch die Leute wieder empfänglich für das Schöne und die Kunst und die Musik. Aber doch nicht, wenn Deutschland im Endspiel ist ... Bitte doch nicht dann! Jeder, der dann ins Konzert gehe, gehöre doch bestraft oder geistig mal durchgetscheckt. Gut, wenn einer jetzt sterben müsse, das sei was anderes. Das könne man auch gut allein. Aber wer noch lebe, der müsse das Spiel sehen. Und ob ich angesichts einer solch schlagkräftigen Argumentationskette denn noch bei meinem Vorhaben bleiben wolle? Ein Konzert, das sei doch etwas, das man für andere mache. Und auch wirtschaftlich gesehen sei das doch der total Fallout.

Ich muss zugeben, dass ich ein wenig verunsichert bin und nicht weiß, wie ich mich verhalten soll. Ich habe eines der schwersten Verbrechen begangen und vor allem eines, das nicht wiedergutzumachen ist. Mord, Totschlag, schwerer Diebstahl - das kann man absitzen oder aussitzen. Was ich getan habe - bei vollem Bewusstsein und im Wissen um die terminliche Kollision - was ich getan habe, werden noch meine Kinder zu büßen haben. Noch sind unsere Scheiben heil - die Wände unseres Hauses nicht mit Parolen besprüht, aber es kann nicht mehr lange dauern bis zu den ersten Protestkundgebungen. Und die Polizei wird mir keinen Schutz gewähren. Ich bin geächtet und vogelfrei. Selbst das fußballspielende Ausland wird kein Verständnis für meine Tat haben und die Immigration verweigern. Ich erwarte stündlich ein Schreiben von meinem Arbeitgeber. Vielleicht wird mir die Kirche Asyl gewähren, obwohl ich weiß, dass unser Pastor am Sonntagabend vor dem Fernseher sitzen wird. Er wird mir vielleicht den Schlüssel für die Kirche aus dem Fenster werfen, solange er den Grund für mein Asylbegehren nicht kennt. Man wird mich in die Talkshows einladen und neben die Perversen setzen. Öffentliche Kartenverbrennungen im Vorfeld des Konzertes sollen bereits geplant sein, und die Programmhefte in dreistelliger Auflage werden wohl ein Raub der Flammen werden. Die Sponsoren unserer Konzertreihe haben - ich hätte es mir denken müssen - ihre weitere Zusammenarbeit aufgekündigt. Meine Eltern wollen mich zur Adoption freigeben, und mein Zahnarzt dem ich eine Freikarte geschenkt hatte, weigert sich, an meiner Brücke weiterzuarbeiten. Selten hat man im Lokalteil unserer Zeitungen derart polemische Konzertankündigungen gesehen.

Nach dem Grund für dieses Desaster gefragt kann ich nur antworten: Eine der Sängerinnen, die für das Konzert dringend benötigt wurden, nannte den 30. Juni als ihren einzig freien Termin für dieses Konzert. Als Geschichtsfälschung wird man es auslegen, dass ausgerechnet diese Sopranistin vor 2 Wochen kurzfristig absagte. Sollte ich sie beim Anschauen der Aufzeichnung im Stadion erkennen - ich habe nichts mehr zu verlieren - werde ich sie umbringen und sicher einen gnädigen Richter finden.