Pessoa

Der Bandoneonspieler gibt sich aufgeknöpft. Tango mit Zimtaroma schwappt den Vernissagisten entgegen.

"Brüder und Schwestern im Hirn, wir haben uns heute hier zusammengefunden, um ein Künstlerbuch vorzustellen, das in seiner Einzigartigkeit (Auflage 200, Preis 500) Maßstäbe zu setzen in der Lage ist ..."

Na bitte, dann kann ja nichts mehr anbrennen. Die Krähmdellakrähm ist überwiegend paarweise angetreten. Dem Bandoneon entschlüpft der nächste Tango: Musik jenseits der Grasnarbe; der Blick des Spielers inspirationsfördernd, wie zum Gebet, deckenwärts strebend. Der Raum lichtdurchflutet stellt Rattansitzgruppen bereit. Kaffee wird gereicht. Auf Tischen wartet verkaufsfördernd dekoriert das Künstlerbuch auf seine Käufer. Während sich die letzten Töne eines Tangos mit Schlagseite im grünkübeldekorierten Salon verlaufen, ergreift der erste Redner das Wort. Dass aber auch immer Mütter mit Kleinkindern kommen müssen, wirkt sich bei diesem Treffen der Oberstudiendirektoren nun wirklich störend aus.

"Meine sehr verehrten Damen und Herren, liebe Freunde ... willst du wohl das Glas stehen lassen, Bertram, bitte, ich habe dir gesagt, da siehst du, jetzt ist es kaputt, ich darf Sie alle auf das herzlichste begrüßen, ja, das da hinten ist die Lotte, aber die siehst du ja morgen wieder im Kindergarten, Mama möchte jetzt mal einen Augenblick, und natürlich können wir noch ein paar Stühle heranschaffen, wir hatten im Traum nicht mit einer solchen Resonanz gerechnet ..."

Im Foyer des Kolpinghauses, man hätte das vorher genauer recherchieren sollen, befindet sich eine Bar, und wer hier verkehrt, gehört nicht zu den Freunden und Förderern der Dichtkunst. Durch die wenig schallschluckenden Glastüren dringt Diskussionsstoff und macht die Vernissage zu einer multikulturellen Veranstaltung.

"Nach dieser kurzen Begrüßung möchte ich den Übersetzer unseres Buches zu Wort, und das Fernsehprogramm in den Sommermonaten kannze doch nun wirklich vergessen, der Ihnen einiges zur Person des Dichters, gestern übrigens der Intelligenztest im Fernsehen war ja nun echt mal interessant, und natürlich möchte ich Ihnen auch den Künstler nicht vorenthalten, der mit seinen Illustrationen, nein, Karla war gestern beim Heilpraktiker, dieser Husten, seit Wochen geht das nicht weg, Bertram bitte, lass Mama mal eben mit Jenny reden, ohne die Illustrationen wäre unser Band nichts als ein Lyrikbuch wie viele andere, dieser Günter Jauch ist ja wirklich ein echter Gewinnschlag für den Sender..."

Heilsbringend greift der Bandoneonist in sein mit edlem Tuch ausgeschlagenes Köfferchen und fräst sich das Instrument in den Schoß. Himmelwärtsblickend werden die Finger positioniert. Ein letztes, die nahende Anstrengung verratendes Ausatmen der Stärke sieben entfährt dem Musikermund, dann: Tango eruptiv die Aufforderung zum Gespräch.

"Kennen Sie eigentlich diesen Pessoa, Kind, nun lass doch mal, das ist Kaffee, für große Leute, geh' einfach ein bisschen spielen, also dieser Pessoa ist doch heute wohl nicht hier, oder, Kevin, das ist kein Bilderbuch, willst du wohl das Buch auf dem Tisch liegen lassen, nein, Pessoa ist doch Portugiese und an einem Leberleiden gestorben, sagen Sie ruhig, dass er gesoffen hat, gesoffen hat der wie ein Loch, und wir waren ja kürzlich noch auf Sylt, das ist ja nun auch nicht mehr das, was es mal war, also diese Kinder, wirklich ganz fürchterlich, und so freue ich mich, Ihnen nun endlich den Übersetzer für unser Buch, Herrn Oberstudiendirektor a.D., da komme ich abends aus dem Theater, und da hat jemand mir die Antenne abgebrochen und dann einmal lang quer, nachher würden wir gerne mit Ihnen auf das Buch anstoßen ..."

Der Übersetzer wankt zu einem imaginär am Kopfende des Raumes sich befindenden Podest und greift nach einem Stapel Manuskriptseiten, die auf einem Beistelltischchen nebst Karaffe und Glas abgestellt sind. Die Kinder haben sich längst zu einer lautstark agierenden Spielgruppe zusammengetan und behindern das Vernissagepersonal beim Austragen der Getränke. Der Verleger sieht sich genötigt, um Ruhe nachzusuchen und entsendet einen drohenden Blick in Richtung Theke. Trotz seines greifbar hohen Alters scheint der übersetzende Oberstudiendirektor a.D. sein Manuskript im Einzeilenabstand und Punktgröße neun ausgedruckt zu haben. Was noch schlimmer ist: die Zahl der Manuskriptseiten ist nicht abzählbar, denn der Redner hat die Redeseiten aneinandergeklebt und zu einer Art Faxpapierrolle gedreht. Er beginnt mit dem Geburtstag von Pessoas Urgroßvater. Die Blicke der Anwesenden senken sich schmerzbehangen zu Boden.

"Sie werden verstehen, meine Damen und Herren, dass ich weit ausholen muss, ach, Fräulein, wenn Sie mir bitte noch ein Glas Orangensaft für den Kleinen bringen könnten, wir sind alle Buchhalter, hat Pessoa gesagt, und ich finde, dass man den Grundgedanken des Künstlertums gar nicht besser zusammenfassen, na ja, und ich habe natürlich gleich zu meiner Frau gesagt, dass diese Art von Krimi, und morgen ist doch das Rennen in Italien, aber der Schumi muss doch eigentlich gar nicht mehr, der ist doch längst ..."

Man merkt, dass der Verleger merkt, dass er den Redetext vorher hätte lesen sollen. Sein Blick wird, wenn er auf einen Gästeblick trifft, zur groß angelegten Entschuldigung. An der Theke scheinen zwei Herren nach dem Genuss von zu viele Alkoholika über das Wesen der menschlichen Intelligenz unversöhnlich in Streit geraten zu sein. Das Thekenpublikum spaltet sich in zwei Lager. Im Publikum wandern die ersten, schüchtern Zeitnot mit dem Tippen auf die Rolex signalisierend, ab. Der übersetzende Oberstudienrat a.D. ist gottseidank mit dem Entziffern des Neunpunktdruckes hinreichend ausgelastet und sonnt sich im eigenen Wissen. Er möchte -- nur um den Müttern Gelegenheit zur Einflussnahme auf ihre Kinder zu geben -- kurz bemerken, dass er sich im ersten Sechstel seiner Rede befindet und demnach noch cirka 58 Minuten zu sprechen hat. Vielleicht haben die Kleinen ja Lust, sich derweil im Hof -- gerade hat ein Platzregen der Stärke neun eingesetzt -- die Beine zu vertreten.

Der Redner hat Pessoa natürlich persönlich gekannt. Und gut. Man hat einiges zusammen unternommen und lange Streitgespräche geführt. Nicht ohne Essen und Trinken. Das hält Leib und Seele zusammen. Der Verleger ist längst grün und blau im Gesicht und lacht am lautesten über die kleinen Scherze seines Festredners, der immerhin schon bei Pessoas achtem Geburtstag angekommen ist. An der Theke haben sie begriffen, dass endlich Stimmung gemacht werden muss. Mehr oder weniger dezent wird deutsches Schlagerliedgut beigesteuert, während sich Pessoas Leben seinem hochprozentigem Ende nähert. Der Applaus will lange kein Ende nehmen, und man kann sich nur mit der Hoffnung trösten, dass Festredner in der Regel keine Zugaben vorbereiten.

Jetzt endlich darf gekauft werden. Der Festredner wird umlagert und um Signaturen gebeten. Leider ist Pessoa ja bereits verschieden. Der Verleger bittet um musikalische Untermalung, die vom Musiker Augen himmelwärts und mit Schmachteblick ein letztes Mal gewährt wird. Dann rücken die Pressefotografen an: Bitte Redner, Verleger und Knopfakkordeon. Noch immer blickt der Festredner rauschhaft drein, und der Verleger kündigt das nächste Künstlerbuch an. Wein ist auch noch da ...